
Alle Toten sind noch da
2025
Bogensee-Areal
Videoperformance
Die Kamera zeigt gen Himmel, zeigt die Krone einer Kiefer, schwenkt langsam zu Boden, fängt kurz das Areal der Bogenseevilla ein, schwenkt weiter auf Kiefernnadeln und auf nackte Füße, die sich in Bewegung setzen. Die – nicht lang und doch schier endlos – über Kies und Sand laufen, Schritt für Schritt, knirschend. Begleitet von Unwohlsein und Vogelgezwitscher.
Der Ort, umgeben von dichten Wäldern, hat etwas Idyllisches – hätte etwas Idyllisches, wäre da nicht die Geschichte. Wären da nicht die Menschen, die sich acht Jahrzehnte zuvor an dieser Stelle bewegt, vielleicht auch hinaufgeblickt haben, zur Kiefer und dem Himmel darüber. Wären da nicht die Toten, diese Toten und Millionen andere. Die Villa gehörte Joseph Goebbels; in den letzten Kriegsjahren lebte er hier mit Magda Goebbels und den sechs Kindern.
Die Füße passieren den Vorhof, stoppen an der Schwelle des Hauses. Eine Hand auf der Türklinke rückt in den Fokus. Versucht sie die Tür zu öffnen? Stemmt sie sich dagegen, um sie zuzuhalten, damit die Gespenster dahinter nicht entfliehen? Zwischen Eindringen und Zuhalten wird die Komplexität von Erinnern und Vergessen spürbar.
Die Videoperformance entsteht am frühen Morgen des 8. Mai 2025, dem 80. Jahrestag der Befreiung. Die Künstlerin selbst führt die Kamera. In ihrer Arbeit „Alle Toten sind noch da“ begibt sich Stephanie Bothe auf die Spuren der Vergangenheit und hinterlässt dabei eigene – flüchtige im Sand, bleibende in sich selbst. Sie sucht die physische und emotionale Verbindung zum Ort und zur Geschichte, die hineinwirkt ins Heute. Sie beschreitet, einem tiefen inneren Bedürfnis folgend, einen für sie unausweichlichen Weg. Sie findet einen persönlichen Bezug zu jener Geschichte, zu Fragen der Haltung und der Feigheit – und stellt dadurch eine Verbindung zu den Toten her. Die Betrachtenden lädt sie dazu ein, ihrem Blick zu folgen – nach außen und nach innen.
Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern. (Theodor Adorno, 1959)
Text von Ben Schieler